Buchrezension: Berlin HeartbeatsFotos und Gespräche aus einer Stadt, die es so nicht mehr gibt
12.7.2017 • Kultur – Text: Thaddeus Herrmann„Berlin Wonderland“ war der erste Bildband, der die Explosion der Berliner Post-Wende-Subkultur mit viel Feingefühl facettenreich abbildete und einordnete. Nun, drei Jahre später, legen die Herausgeber Anke Fesel und Chris Keller mit „Berlin Heartbeats“ den Nachfolger vor. Mit mehr Storytelling, einer umfangreichen Interview-Sammlung und der gleichen starken Bildsprache. Das Berlin der 1990er-Jahre wird so nicht nur ein weiteres Mal abgelichtet, sondern auch umfassend kommentiert. Dieser Underground, der die Berliner Party- und Kultur-Szene, die noch heute auf die ganze Welt so anziehend wirkt, begründete, lässt sich – so das Versprechen des neuen Buches – bis in die Gegenwart weitererzählen und -verfolgen. Ist das verklärte Trauerarbeit oder genau die Geschichtsschreibung, die der Party-Tourismus für die Afterhour braucht?
Berlin tankt noch immer Nostalgie. Der Blick zurück, egal, wie weit und in welche Epoche, ist das, was die Außenwirkung der Stadt bestimmt. Ein bisschen Mythos, die eine oder andere Erzählung aus zweiter oder dritter Hand, ein verklärter Artikel: Es sind diese Dinge, die dafür verantwortlich sind, dass es die weltweite Subkultur immer noch hierher zieht, egal ob für ein Wochenende oder wenn auch nicht für immer, dann doch für länger.
Nach dem Mauerfall im November 1989 waren die beiden Berlins aus den unterschiedlichsten Gründen so betrunken, dass Dinge geschehen konnten, die anderswo nicht mal ein Dorfpolizist toleriert hätte. Dass dies ein einzigartiger Moment der Geschichte war, ist unbestritten; der Nachhall, den diese doch eher kurze Periode bis heute produziert und provoziert, ist umso beachtlicher. Das kann einem Sorgen machen, gerade wenn man hier – hüben oder drüben – aufgewachsen ist. Ist denn seitdem wirklich nichts vorangegangen, nichts Wichtigeres passiert? Was genau macht dieses Berlin wirklich aus, wenn es selbst 2017 immer noch auf illegale Techno-Clubs, Galerie-Keller, Außenklos, Wagenburgen und nicht retuschierte Einschusslöcher an Hausfassaden reduziert wird? Westberlin war ein spießiges Provinznest, Ostberlin war ein spießiges Provinznest und: Berlin ist wieder ein spießiges Provinznest. Selbst die Trabis fahren ja wieder. Umso dankbarer muss man sein, dass diese wenigen Jahre in den 90ern ein Fundament dafür gelegt haben, dass man sich selbst heute noch bei Bedarf in das Stahlbad der Nostalgie legen, danach auf die Straße pissen und sich im Wendedreck suhlen kann.
Diese Zeit umfänglich zu dokumentieren ist wichtig. Nicht zuletzt, weil es erst vor nicht mal 30 Jahren passierte und selbst für jüngere Menschen in aller Abstraktion noch irgendwie nachvollziehbar scheint. Also: nicht das mit der Politik, sondern das mit dem Underground. Genau dies haben Anke Fesel und Chris Keller 2014 in ihrem Buch Berlin Wonderland getan. Aus einer klaren Perspektive heraus, einer ganz bestimmten Szene angehörig und verbunden, die damals Berlin-Mitte umbuddelte. Die Geschichten der „wilden Jahre 1990-1996“ erzählen die beiden nun in „Berlin Heartbeats. Stories From The Wild Years 1990 – Present“ weiter. Mit neuem Schwerpunkt – Storys – und zeitlich weiter gefasst, bis in die Gegenwart hinein.
Viele Anekdoten kommen einem zwar bekannt vor, manche kann und will man nicht mehr hören. Wieder andere jedoch hat man so vorher noch nie gehört. So komplettiert sich das Bild der Vergangenheit erneut ein bisschen mehr.
In „Berlin Heartbeats“ erzählen viele Bekannte ihre Geschichte. Wie sie entweder nach Berlin kamen und die nicht mehr geteilte Stadt wahrnahmen, wie sie hier aufwuchsen und die Veränderungen erlebten, oder auch wie sie Berlin als Etappe einer Reise nach ein paar Jahren wieder verließen, zumindest temporär. Frank Castorf ist dabei, dessen Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz ja erst kürzlich umgewidmet und deren alte Besatzung beim abschließenden Sommerfest vom Regen hingerafft wurde. Dimitri Hegemann erzählt zum x-ten Mal seine Fischlabor- und Tresor-Storys, Berghain-Türsteher und Fotograf Sven Marquardt plaudert über seine schwule Punker-Jugend in Pankow. Klaus Biesenbach berichtet, wie er mit einem Medizin-Stipendium aus New York anreiste und die Kunst-Werke auf den Weg brachte. Christiane Rösinger erinnert sich an die Flittchenbar und die Bitchisierung der Popkultur, Sasha Waltz an ihre Stationen vor der Schaubühne. Robert Lippok ist genauso dabei wie Flake von Rammstein. Das Spannende an diesen O-Ton-Collagen sind die mitunter nur auf den zweiten Blick sichtbar werdenden Überschneidungen und Berührungspunkte dieser ganz unterschiedlichen Biografien. Viele Anekdoten kommen einem zwar bekannt vor, manche gar kann und will man einfach nicht mehr hören bzw. lesen, weil sie von den Protagonisten oft genug zu Protokoll gegeben wurden. Wieder andere Geschichten jedoch hat man so vorher noch nie gehört. So komplettiert sich das Bild der Vergangenheit erneut ein bisschen mehr.
Zeitzeugen gesucht
Denn „Berlin Heartbeats“ lebt trotz des Versprechens im Untertitel „1990 – Present“ praktisch komplett in genau dieser Vergangenheit, zumindest fühlt es sich so an. Was die Interviews angeht, stimmt das auch. Auch wenn nicht unisono der damaligen Zeit hinterhergeweint wird und man den hervorragend editierten Gesprächen, die dadurch angenehm gleichförmig und fast distanziert wirken, keine durchgehende Nostalgie und diese gewisse Verklärtheit vorwerfen kann. Hier werden Zeitzeugen befragt, die ihre Perspektive schildern. Andere Zeitzeugen hätten aber auch ein kompletteres Bild der damaligen Zeit gezeichnet.
Das Tolle an „Berlin Heartbeats“ ist jedoch, dass man die Interviews gar nicht unbedingt zu lesen braucht. Denn die Bilder der Fotografen Ben De Biel, Harald Hauswald, Ute Mahler, Hendrik Rauch, Philipp von Recklinghausen, Sven Marquardt, Markus Werner und Rolf Zöllner – einige davon kennt man bereits aus dem ersten Teil – sind stark und lebendig. Hier schließt das Buch an die Qualität von „Berlin Wonderland“ an. In der Rezension zu eben jenem Buch hieß es in diesem Magazin:
„[Das Buch] blickt über die Klischees der damaligen DIY-Kultur hinaus und streift auch den Alltag der Aktivisten und vor allem den der „Eingeborenen“. Denn zwischen Kunst und Anarchie, Bier und Bassdrums ging das Leben weiter bzw.: begann sich drastisch zu wandeln.“
Das Gleiche gilt auch hier. Nur, dass es noch besser funktioniert. Einige der Fotostrecken wurden mit O-Tönen der Protagonisten untertitelt und bieten so genau den Mehrwert, den es braucht, um das Berlin von damals zu verstehen.
Es sind genau diese Geschichten, die so noch nie erzählt wurden.
Besonders beeindruckendes Beispiel: 1992 begleitete Philipp von Recklinghausen eine nächtliche Polizeistreife in Mitte, die Polizisten von damals kommentieren heute die Fotos. Oder Harald Hauswald erinnert sich an seine Fotoreportage aus der Mainzer Straße. Es sind genau diese Geschichten, die so noch nie erzählt wurden. Und es sind diese Geschichten, die spannender und wichtiger sind als Backstage-Fotos aus Clubs. Der Rest dokumentiert den kulturellen und stadtplanerischen Irrsinn, der damals so absurd war wie heute und noch längst nicht vorüber ist.
„Berlin Heartbeats“ liefert, genau wie sein Vorgänger, einen wichtigen Beitrag zur Dokumentation Berlins jüngerer Vergangenheit. Mindestens ebenso wichtig und wünschenswert wäre es jedoch, genau diese Vergangenheit nun auch aufzuarbeiten und nicht nur kritisch, sondern vor allem realistisch zu bewerten. Denn trotz aller Spießigkeit hat sich Berlin seit dieser Zeit mehrfach um die eigene Achse gedreht. Schwerfällig wie immer, aber: Es hat sich bewegt. Es wird die Aufgabe des dritten Bandes sein, das Erlebte der Vergangenheit so auszuwerten, dass Techno-Strich, Townhouses und SUVs einfach von selbst verschwinden.
Anke Fesel & Chris Keller (Hrsg.), Berlin Heartbeats. Stories From The Wild Years 1990 – Present, ist bei Suhrkamp erschienen. Preis: 29,90 €